Über das Authentische in uns und den unbändigen Drang, sich immer und überall Freiheiten herauszunehmen

von | 11.11.2023 | Allgemein, Knigge, Gesellschaft, Umgangsformen

Ein Begriff ist gerade sehr angesagt: Authentizität. Authentisch sein heißt: sich locker machen, sich keinen Zwang antun – weder in Bezug auf sich selbst noch auf andere. Keine Regeln, keine Konventionen, dafür betonte Lässigkeit. Authentizität wird als lustvolle Befreiung empfunden. Doch Befreiung wovon? Von Kultur, Stil, Zivilisation? Es ist schon merkwürdig: Noch nie zuvor in der Geschichte hatte unsereins mehr Freiheiten, zu tun und zu lassen, was wir wollen. Und doch ist da überall dieser unbändige Drang, sich frei und immer noch ein wenig freier zu machen.

 

Foto: Shutterstock

Authentizität um jeden Preis? 

Die schlimmsten Auswüchse der Zwanglosigkeit lassen sich in Touristenhochburgen besichtigen. In der kroatischen Kulturmetropole Split, deren historische Altstadt zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, hat man kürzlich Benimmregeln aufgestellt und für den Fall der Zuwiderhandlung saftige Strafen verhängt. Warum? Aus Notwehr. Zu viele authentische Touristen. Der Bußkatalog: 300 Euro für hemmungsloses Sich-Besaufen, für Urinieren in der Öffentlichkeit, Zumüllen von Plätzen, Besteigen von Denkmälern und für das Tragen von Badebekleidung im Stadtgebiet. Erbrechen an öffentlichen Orten ist schon für die Hälfte zu haben: 150 Euro.

Die Bußgelder zeigen die gewünschte Wirkung, humane Gepflogenheiten gelten wieder in Split. Plötzlich keine grölenden Horden mehr, die in Bermudas und Badeschlappen durch den Säulenhof des antiken Diokletianspalasts ziehen. Keine hemmungslosen Selbstentäußerer mehr am Narodni Trg-Platz. Und mehrheitlich wieder Touristen, die es sich – Authentizität hin, Authentizität her – verkneifen, in den Marjan-Park zu pieseln oder in der Marmontova ulica mal so richtig die Sau rauszulassen.

 

Wohlverhalten, per Strafandrohung erzwungen?

Man kann mit halbwegs gutem Benehmen derzeit viel Geld sparen in Split. Dafür sollte man den Stadtoberen danken und ihnen obendrein einen Orden für Verdienste um die Erziehung des Menschengeschlechts verleihen. Mit ihrem couragierten Erlass haben sie Haltung bewiesen und das gute Recht des Gastgebers durchgesetzt, der sich von seinen Gästen eben nicht alles bieten lassen muss, sondern die Spielregeln bestimmt, nach denen sich auch zahlende Urlauber zu richten haben.

Eine gewisse Bitterkeit des Bedauerns kann man allenfalls darüber empfinden, dass es wieder mal der schnöde Mammon regeln muss, wo die humane Moral versagt. Kultiviert sich der Mensch nur, wo ihn Unkultiviertheit teuer zu stehen kommt? Bleibt der innere Schweinehund nur angeleint, wenn Ungemach und empfindliche Geldstrafen drohen? Und ist im Umkehrschluss Stillosigkeit bloß ein Ablasshandel für den, der genügend Kohle in der Tasche hat?

 

Kein Verständnis für Kulturverächter

Niveauloses, despektierliches Benehmen ist ja schon längst nicht mehr das Privileg angeblicher Unterschichten (wenn es das denn je gewesen ist). Vulgarität hat sich so umfassend demokratisiert wie sonst nichts. Deshalb kann man nur hoffen, dass neureiche Kulturverächter nicht auf die Idee kommen, in der Hauptstadt Dalmatiens mal ordentlich zuzulangen und damit der Welt zu beweisen, dass sie sich jeden noch so kostspieligen Exzess locker leisten können. Das wäre höchst unfair – und zwar nicht den weniger Reichen, sondern den Einwohnern Splits gegenüber, die sich wohlerzogene, kultivierte, rücksichtsvolle Gäste wünschen. Dieser Wunsch ist mehr als berechtigt.

 

Wider das Missverständnis grenzenloser Freiheit

Die Idee unbedingter Authentizität, verstanden als Triumph animalischer Instinkte, ist nicht bloß physisch abstoßend, sie basiert auch auf einem grundlegenden Irrtum. Nichts in uns fühlt sich befreit, wenn wir uns aller Hemmungen entledigen. Niemand hat, wenn er rumpöbelt und rumgrölt, mehr vom Leben. Es ist so, wie es immer war: Wo Menschen aufeinandertreffen, tut ein Mindestmaß an Kultiviertheit not. Ohne Achtung des anderen keine Selbstachtung. Und das Reich individueller Freiheit endet dort, wo das des Nächsten beginnt – und an den Grenzen des guten Geschmacks.

 

Bella figura einst und jetzt – zur Abwechslung mal Urlaub vom inneren Schweinehund

Vor hundert Jahren fuhr man im feinsten Zwirn in die Sommerfrische, Schwarzweißbilder bezeugen es. Man gab sich am Ferienort keine unschickliche Blöße, wollte selbst bei bescheidenen finanziellen Mitteln stets bella figura machen, sprich: Stil und Geschmack beweisen auch und gerade an den Stätten der Erholung. Die Ära des kollektiven Urlaubs- und Freizeit-Chics mag ein für alle Mal vorbei sein. Doch trotz aller gelockerten Konventionen und erworbener Freizügigkeiten wissen die meisten Zeitgenossen immer noch ganz genau, was man tun kann und was man besser bleiben lassen sollte, wenn man irgendwo zu Gast ist. In diesem Sinne: Auf nach Split!


Dr. Horst Lauinger

Horst Lauinger studierte Geisteswissenschaften in Salzburg und Marburg an der Lahn. Im Jahr 2000 übernahm er die Leitung des Manesse Verlags in Zürich. Seit drei Jahrzehnten in der Buchbranche tätig, beschäftigt er sich tagtäglich mit klassischen Stilfragen im engeren und weiteren Sinne, also mit der Abwägung, welcher verbale oder nonverbale Ausdruck der jeweils angemessenste ist.

Fotocredit: Olaf Petersenn

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