Unser Essen – eine Haltungsfrage?

von | 12.02.2022 | Tischkultur, Werte, Essen

Über Gastfreundschaft und gutes Benehmen.

„Sag mir, was Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist.“

Foto: Shutterstock

Längst sind die Menü-Abfolgen bei Einladungen von Freunden wahre Abenteuer. Hier ist die Rede von vegetarisch, regional, saisonal, von den in den Kochimperien von Tim Mälzer, Cornelia Poletto, Jamie Oliver, Yotam Ottolenghi oder der vielen Foodblogger:innen wie z.B. Bianca Zapatka (Vegan&Easy) geschmiedeten Rezepten mit vielen Spezialzutaten und unverzichtbaren Gewürzen. Gastfreundschaft wird großgeschrieben. Auch Food-Sharing ist in aller Munde, denn es spiegelt nicht nur eine bestimmte Haltung, sondern es trägt zudem das funkelnde Etikett der Nachhaltigkeit.

Klassiker wie das Frühstück mit Wurst und Käse treten farblos in den Hintergrund. Geradezu einfallslos das Abendessen mit einer klaren Brühe zur Vorspeise, einem deftigen Fleischgericht im Hauptgang und einer Bayrischen Creme zum Dessert. Die Food-Revolution ist im vollen Gange, die Revoluzzer:innen des Event-Cookings sind auf dem Vormarsch. Auch beim Essen gilt: Nichts ist so beständig wie der Wandel. Die Umgangsformen haben sich allerdings nicht verändert

Toleranz für die Gepflogenheiten anderer…

… wird vom Emnid-Institut Bielefeld in der Hitliste der wichtigsten Umgangsformen ganz weit vorne genannt. Auch „rücksichtsvolles Verhalten“ wird in dieser Veröffentlichung zu Recht angemahnt. Gleichzeitig gibt die Hitliste einen ultimativen Tipp und spricht davon, dass gutes Benehmen, der jeweiligen Situation angepasst praktiziert werden kann.

Gutes Benehmen

Das Abenteuer kann beginnen. Sie sind nach Jahren erstmals wieder für ein ganzes Wochenende bei Freunden eingeladen, die Sie – entgegen Ihrer Erwartungshaltung –  schon am Freitagabend mit einem ausschließlich veganen Abendessen überraschen. Weil Ihnen gute Umgangsformen wichtig sind, werden Sie sich Ihre „Enttäuschung“ nicht anmerken lassen. Gleichzeitig bangen Sie um die frische Milch im Frühstückskaffee… Was jetzt? 

Probieren geht über Studieren…

Probieren Sie es doch einfach mal aus, und bleiben Sie offen für einen Ihnen aktuell noch unbekannten Genuss! Prima, schon haben Sie die erste Hürde „Guten Benehmens“ genommen. Als guter Freund und beste Freundin werden Sie sich zudem ernsthaft dafür interessieren, welche Ereignisse zu der veganen Lebensweise geführt haben oder ob diese lediglich dem aktuellen Trend entspricht.  Vielleicht wird es sehr nachvollziehbare Gründe dafür geben. Stand z.B. die Gesundheit auf dem Spiel? Echtes Interesse würde ich – zumindest in einem freundschaftlichen Verhältnis – nicht als distanzlose Neugierde, sondern als empathisch und verbindlich bezeichnen.

Keine Bewertungen

Ihre Reaktionen sollten allerdings jeglicher Bewertung entbehren und von Toleranz sowie Respekt getragen sein. Bleiben Sie in Ihrer Wertschätzung für das befreundete Paar, bleiben Sie authentisch und hören Sie aktiv zu, d.h., fragen Sie ruhig auch einmal nach, wenn Sie etwas nicht verstanden haben oder genauer wissen wollen. Stellen Sie ggf. mit Ich-Botschaften und einem Griff an die eigene Nase fest, dass Sie selbst weite davon entfernt sind, sondern liebgewonnenen Ritualen („My day begins after a coffee“) und eher herkömmlichen Essgewohnheiten anhängen.

Gute Gastgeber…

… zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie Ihre Sorgen und Nöte angesichts des Mangels an Klassikern im eigenen Kühlschrank womöglich längst antizipiert haben und Sie direkt beim Abendessen schon nach Ihren Wünschen für ein gelingendes Frühstück fragen. Sehr gute Gastgeber fragen schon beim Aussprechen der Einladung nach Befindlichkeiten und erweisen sich somit als maximal flexibel. Der Gast ist König und soll sich schließlich wohlfühlen.

Gute Gäste…

… sind rücksichtsvoll und haben zudem eine Bringschuld, d.h., sie bedanken sich für die Einladung und die Umsicht, die der Gastgeber mit seiner Frage beweist. Selbstverständlich darf und sollte der Gast die Gelegenheit nutzen und auf seine eigenen Unverträglichkeiten oder gar Aversionen gegen bestimmte Nahrungsmittel hinweisen. (Ich z.B. finde alle Speisen mit Äpfeln einfach nur zum Weglaufen.)  Sehr gute Gäste sind gleichzeitig bescheiden und beschränken sich mit ihren „Sonderwünschen“ auf 1-2 Dinge, die für das Wohlgefühl unabdingbar sind. Der/die „Gastfreund:in“ könnte sogar anbieten, den Frühstückseinkauf zu erledigen oder auch mal selbst den Kochlöffel zu schwingen.

Flexibel und anpassungsfähig

Wenn sich Ihre Freunde eine gewisse Flexibilität bewahrt haben und sich als „Flexitarier“ verstehen, werden Sie Ihr Kochangebot sehr willkommen heißen. Sie wiederum können es ja auch ein wenig anpassen…

Gegenseitige Überzeugungsarbeit wäre jedenfalls völlig fehl am Platz, erst recht nicht, wenn sie in einem Schlagabtausch endet. Letztendlich steht doch die freundschaftliche Begegnung im Mittelpunkt des gemeinsamen Wochenendes. Da sollte das Essen nicht die erste Geige spielen.

Und wer weiß? Am Ende freuen sich Ihre Gastgeber:innen über die Lebensmittel, die eine Renaissance in ihrem Kühlschrank feiern. So wie wir uns freuen, wenn eine fast vergessene Lieblingsspeise aus der Kindheit auf den Tisch kommt.

 

P.S. Das Zitat in der Überschrift stammt übrigens von Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826), frz. Schriftsteller und Gastrosoph. Seine Fundamentalsätze zur Gastronomie lauten:      1. Alles, was lebt, isst. 2. Der Mensch lebt nicht um zu essen, sondern um gut zu essen.


Melanie Mohr

Die Verwaltungs- und Betriebswirtin Melanie Mohr war 18 Jahre lang bei der Stadt Mainz tätig, bevor sie 2007 in die Staatskanzlei des Landes Rheinland-Pfalz wechselte. Als Chefin des Protokolls leitet sie das Referat Protokoll, Veranstaltungen, Orden und Ehrenzeichen – zunächst für Ministerpräsident Kurt Beck, seit 2013 für Ministerpräsidentin Malu Dreyer. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit Büchern, Yoga und Bewegung in der freien Natur.

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