Ungezwungene Freiheit – oder grenzwertig und Freiwild?

von | 09.07.2022 | Werte, Kommunikation, Ethik, Gesellschaft, Umgangsformen, Allgemein

How to knigge im Alltag:

Was erlauben wir uns? Die eigene Freiheit war selten größer als heute. Doch legitimiert sie alles, was wir tun? Und mit welcher Frage bekomme ich das nötige innere Geleit dafür, was für mich richtig und die anderen annehmbar ist?

Bild: Shutterstock

Ich darf, ich will, ich kann

Ein großes Gut unserer Zeit ist die persönliche Freiheit mit ihren vielen Möglichkeiten: Grundsätzlich leben wir in einem Land und unter Umständen, unter denen jede:r im Großen und Ganzen tun darf, was er:sie tun möchte. Wir haben die Wahl: Essen wir vegan oder viel Fleisch? Gehen wir mit Krawatte oder Jogginghose ins Büro? Welche Teile der Welt wollen wir sehen? Sind wir lieber online oder offline, geimpft oder ungeimpft? … etc.

Aus meiner Sicht gab es bisher in unserem Land keine Zeit, in der sich das Individuum so frei und ungezwungen bewegen konnte wie unsere heutige. Das ist ein großes Geschenk oder um es klar zu sagen, eine gesellschaftliche Leistung, auf die wir alle gemeinsam eigentlich stolz sein könnten.

Erlaubt ist, was gefällt – Noch

Doch zugleich verhärten sich die Fronten und der Ton. Statt dass wir uns an dieser Vielfalt, Freiheit und den Möglichkeiten, die wir haben, erfreuen, wird der Umgang untereinander deutlich rauer und feindseliger.

In vielen Themen ist ein Diskurs auf Augenhöhe nicht mehr möglich. Es geht nicht mehr um einen Austausch von Argumenten, sondern um ein „Wir/Ich gegen Die“. Das Individuum guckt aus dem eigenen Ego-Blickwinkel und geht gegen alles vor, was ihm:ihr nicht gefällt, passt, schmeckt … .

Trotz aller Freiheit, die man für sich als Voraussetzung und Grundrecht beansprucht, ist es oft mit den Freiheiten für die anderen nicht so weit her. Diese eigene Freiheit beinhaltet für Viele offensichtlich leider auch die Erlaubnis und Berechtigung, ohne Anstand und Respekt andere Menschen für ihr Tun und Denken -oft auch öffentlich – anzugreifen, zu verurteilen, zu demütigen.

Und im Zweifel ist man das Opfer

Gibt es dann für diese unlautere Verhalten doch mal eine Konsequenz, ist es ein probates Mittel, sich zum Opfer zu deklarieren – aufgrund der Umstände, der Kindheit, der Provokanz des Gegenübers. Das ist gar nicht so unschlau, denn Schuld sind ja dann immer die anderen. Alles nur Notwehr.

Die Eigenverantwortung scheint ziemlich aus der Mode gekommen zu sein. Es ist auch viel bequemer, die Umstände und die Anderen verantwortlich zu machen.

Wir hatten in jüngster Zeit ein paar prominente Beispiele. Eines davon: Ein Oscar-Moderator macht trotz seiner Vorbild-Funktion vor Millionenpublikum verletzende Witze unter der Gürtellinie und bekommt dafür (sicherlich auch nicht sonderlich eloquent) eine schallende Ohrfeige. Er ist danach das arme Opfer, doch am Ende des Tages lautet eine wichtige Frage: Wer hat denn eigentlich angefangen bzw. wäre das passiert, wenn er einfach höflich geblieben wäre?

Wer am lautesten schreit, hat nicht immer Recht

Wir alle – unsere Gesellschaft – sind gerade so im Modus für Aufmerksamkeit und Mitgefühl für die vermeintlichen Opfer, dass wir oft aus den Augen verlieren, wer die eigentlichen Täter sind und tun nichts gegen diese falsch interpretierte persönlichen „Freiheit“ auf Kosten der anderen.

Weil wir es nicht bemerken, wenn es geschickt eingefädelt ist. Weil wir es nicht sehen wollen, da es anstrengend ist. Und was am schlimmsten ist, weil wir Angst haben, etwas dagegen zu sagen, weil dann der Schimpf und die Schande über uns selbst hereinbrechen.

Das sind gute Voraussetzungen, um mit Zwietracht, Fehlinformation und unter vermeintlich harmlosen Deckmäntelchen zu polarisieren und unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören.

Alles zulassen, ohne Konsequenzen, war noch nie eine gute Alternative

Es gibt so viele Bereiche, in denen respektlose Übergriffe unkommentiert und ohne Konsequenzen an der Tagesordnung sind.

Täglich begegnen sie uns auf SocialMedia oder im Kindergarten, wenn die Erzieherin wegen Kindesmisshandlung angezeigt wird, weil sie dem 1,5-Jährigen nicht alles erlaubt, was dieser sich vorstellt. In der Schule, wenn den Lehrer:innen mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gedroht wird, weil die Brut schlechter als gedacht abschneidet. Bei manchen Männern, die meinen, nur weil eine Frau eine Frau ist, dürfe sie angeglotzt, bequatscht und angefasst werden. Im Straßenbild, wo überall Müll, Zigarettenkippen und Flaschen hinterlassen werden.

Sicher hat jeder ein Beispiel, mit dem sich die Liste unendlich verlängern ließe. Doch das alles ist erst auf dem Boden dieser vermeintlichen individuellen Freiheit in Verbindung mit kollektivem Wegschauen möglich.

Was Du nicht willst, das man Dir tu´, das füg auch keinem anderen zu

Individuelle Freiheit ist immens wichtig und es ist gut, dass wir sie haben.

Doch vielleicht ist es wichtig und richtig, neben ihr einen weiteren Maßstab für das eigene Verhalten hinzuzuziehen: Die Würde der eigenen Person und die Ehre der Mitmenschen.

Ein Mensch mit Würde tut bestimmte Dinge nicht und sorgt dafür, dass Mitmenschen nicht gedemütigt werden. Es ist eine Frage der eigenen Ehre, bestimmte Überschreitungen anzusprechen – wenn andere Menschen so in Bedrängnis geraten, dass man das selbst so auch nicht haben wollte.

Wenn wir einander mit Würde begegnen, verändern wir unseren Umgang, weil wir diesen positiv proaktiv gestalten und ebenso entsprechend behandelt werden möchten. Der Maßstab, dass man selbst mit Stolz und Ehre ins eigene Spiegelbild gucken kann, gibt der ungezwungenen Individualität und Freiheit eine Leitplanke, die zeigt, wann man nicht mehr für sich unterwegs ist, sondern möglicherweise mit anderen und deren Würde kollidiert.

Könnte ich das so – und zwar genau so, wie es war – erzählen?

Ich bin davon überzeugt, dass man diese Eigenverantwortung mit einer einfachen Frage gut hinbekommt:

Könnte ich das, was ich hier gerade sage/schreibe/tue frank und frei, ohne Schnörkel oder Weglassen, meiner Mutter/meinem Vater/meinem Lieblingsmenschen, dessen Meinung mir viel bedeutet, erzählen – und müsste mich nicht dafür schämen oder entschuldigen?

Wenn ja, dann kann ich es tun.

Wenn nein, dann sollte ich es lassen.

Die Freiheit des Einzelnen endet, wo die Freiheit des anderen beginnt

sagte schon Immanuel Kant.

Jeder von uns ist Teil der Gesellschaft, des Staates und kann die Dinge gestalten, die gesetzlich zwischen den Zeilen schwingen. Denn Freiheit ist dann, wenn es sie für alle gibt, ohne die Würde eines Nebenmenschen zu verletzen. … und so soll es doch weitergehen, oder?

In diesem Sinne, genießen Sie Ihre Sommerferien – ganz so, wie Sie es mögen,

und bleiben Sie uns gewogen,

Ihre

Evelyn Siller


Evelyn Siller

Evelyn Siller ist Executive Consultant für Wirkungsintelligenz, Trainerin und Autorin. Sie begleitet mit ihrer umfassenden Expertise seit vielen Jahren erfolgreich Unternehmen und Persönlichkeiten in Business und Politik in Sachen Stil, Auftreten und Wirkung.

Mehr zu ihr unter www.evelyn-siller.de

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