Wenn Sie in der Welt unterwegs sind, gibt es ein paar untrügliche Anzeichen, an denen Sie „den Deutschen“ in der Regel erkennen: An den Socken in den Sandalen, an der praktischen Kleidung und daran, dass er oder sie schon zehn Minuten vor der Öffnungszeit wartet und sich dann auch lauthals beschwert, wenn nicht genau zur angegebenen Zeit die Tür aufgeht.
Unpünktlichkeit ist für uns Deutsche fast so schlimm, wie beleidigt oder auf Sauerkraut und Spießigkeit reduziert zu werden. Auf unsere Autos und das Schloss Neuschwanstein – und Hand aufs Herz, auch auf das Oktoberfest – sind wir stolz. Unsere Autos versinnbildlichen unser technisches Können und unsere Leidenschaft für´s Detail. Wir sind nicht spießig, sondern präzise und das geht nur mit Ruhe und Sorgfalt und Regeln und Formularen und … – Sie sehen, das hat alles, genau, seine Ordnung. Und weil alles seine Ordnung hat, ist es auch in Ordnung, zu einer vorgegebenen Zeit in einem bestehenden System mal gepflegt unser Nationalgetränk – Bier – zu trinken und in guter alter Tradition zu feiern. Sie sehen, das funktioniert. Made in Germany eben.
Aber zurück zur Pünktlichkeit. Wieso ist sie hierzulande besonders wichtig?
Dazu müssen wir ca. 150 bis 100 Jahre zurückblicken. Deutschland war damals Vorreiter der Industrialisierung in Europa. Die Herstellung von Waren und Gütern wurde in kleine Arbeitsschritte aufteilt, in allen wichtigen Wirtschaftsbereichen wie der Textilindustrie, der Stahl- und Eisenproduktion, der Elektrotechnik und im Chemie-Sektor sind große Fabriken entstanden. Für einen reibungslosen Ablauf war es erforderlich, dass die Arbeiter:innen zu bestimmten Zeiten pünktlich zur Arbeit erschienen. Unpünktlichkeit und Zeit-Haben konnten sich also nur noch die Reichen und Gutsituierten leisten, die nicht auf einen Arbeitsplatz in dieser Maschinerie angewiesen waren. Wer seinen Arbeitsplatz benötigte und behalten wollte, musste absolut auf die Zeit achten. Es war wichtig für den Einzelnen und wichtig für den gesamten Ablauf, also quasi eine gesellschaftliche Tugend.
Auch heute ist den Deutschen mehrheitlich Pünktlichkeit immer noch wichtig. Diese Historie hat offensichtlich ihre Prägung hinterlassen: Wer unpünktlich ist, vermittelt hierzulande den Eindruck, unzuverlässig und überheblich zu sein. Damals wie heute ist aufgrund der Wichtigkeit der Zeit ein Warten-Lassen gleichbedeutend mit Verschwendung von Kostbarem oder eine Macht- und Dominanzgeste, dass man den Anderen nicht wertschätzt.
Die deutsche Definition von Pünktlichkeit
Pünktlich-Sein – wie das Wort schon sagt: Vom Punkt herkommend – ist also keine Zeitspanne, sondern präzise auf den verabredeten Zeitpunkt da zu sein. Auf keinen Fall früher und auch nicht später. Fünf Minuten Verspätung sind akzeptabel. Über eine Verspätung bis zu einer Viertelstunde wird mit einer guten Begründung noch hinweggesehen, sofern der Wartende kurz darüber informiert wird. Alles darüber hinaus macht den Deutschen unglücklich, weil unsicher.
Wissen Sie, wir sind so viel Freiheit und Müßiggang nicht gewöhnt – wir sind nicht immer so spontan, diese Zeit, die wir dann plötzlich haben, zu nutzen. Das kommt in unserer Denke einfach nicht vor, weil eben alles so genau getaktet ist und Abweichungen oft zu Fehlern führen.
Aber die gute Nachricht ist, wir lernen diesbezüglich erheblich dazu – das heißt, wir üben fleißig, selbst mal unpünktlich zu sein – und es gelingt uns immer besser.
Vielleicht sind die Menschen, die seit 10 Minuten vor dem Eingang stehen doch keine Deutschen, oder sie wollen nur die Liegestühle oder die guten Plätze reservieren. Aber das ist ein anderes Thema.