Die Welt dreht sich anders – seit Corona. Und die Frage nach verlässlichen, bleibenden Werten, die auch im Alltag Orientierung bieten, ist virulent. Das Virus trägt dazu bei, die eigenen Lebenswerte, das Gerüst unserer „Verlässlichkeiten“ zu hinterfragen. Und nach bleibenden Perspektiven zu suchen. Insofern ist die Pandemie ein Anlass und Provokation zugleich, die Zukunft neu zu denken.
Werte sind Provokationen
Jeder Wert, den wir verkörpern und einfordern – Versammlungsfreiheit, Güte, Authentizität, Toleranz, Solidarität, Mut, Abgrenzungshärte, Respekt, Resilienz, Nachhaltigkeit etc. pp. –, steht gleichzeitig für eine Provokation. Jeder Wert kennt seinen Kritiker, der dessen Existenz, Qualität und Lebenstauglichkeit in Frage stellt oder gar realiter im Leben zu zerstören sucht. Wer sich schützt, muss mit Hass rechnen. Wer Redefreiheit einfordert, ruft unerbittliche Hardliner auf den Plan. Nachhaltigkeit evoziert den Protest der munter draufloslebenden Konsumgenoss:innen und so mancher traditionsgesinnten Kapitalisten. Die Globalisierung hat in ihrer scheinbar unaufhaltsamen Dynamik ein Angstnetz über alles geworfen, was mit sinnvoll-stimmiger Abgrenzung einhergeht.
Die nicht selten subversiven Manöver der ökonomisch-ökologischen Erweiterungs- und Optimierungsstrategen passen da sehr gut ins Bild. Doch wer wirklich positiv „edgy“ sein will – und nicht nur einen Urban Edgy Look cool zur Schau stellt –, mag diesem Wachstums- und Erweiterungsimperativ die Provokation einer positiven Reduktion und klärender Identitätsvergewisserung entgegenhalten. Die Konfrontation mit dem Corona-Virus bringt der Menschheit grosso modo und globaliter bei, dass Überschaubarkeit und Beziehungstransparenz hohe Güter sind, die nicht nur in gewünschten Apps und Abstandsritualen ihren Widerhall finden.
Provokationen sind wertvoll
Pandemische Zeiten („tempora pandemica“) fordern uns heraus, Schutzmechanismen und Systemerhalt miteinander zu korrelieren. Aus theologischer Perspektive wäre ein Neudenken der Konsummeile „westliche Welt“ und das Brandmarken menschenverachtender – und höchst provozierender – Geschäftsgebaren in diversen Branchen (Fleischwirtschaft/Tierhaltung, Pflege, outgesourcte Billiglohnnischen, Börsen und Banken, um nur einige zu nennen) ein wichtiger Beitrag zur Gerechtigkeitsfrage, zum Wertediskurs wie zum sozialen Frieden. Auch die seit 2015 mit dem Migrationsstrom unzweideutig zunehmende öffentliche Gewalt(bereitschaft) sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden. Dies auch gegen den Fake-News-Mainstream zu thematisieren, ist Pflicht für alle an Gesellschaftswerten Interessierten. Mentalitätskultur drückt sich auch im Reklamieren von gesellschaftlichem Frieden sowie im Eintreten für angstfreie Lebens- und Bewegungsräume aus.
Provokationen fordern heraus; sie sind auch Anlass, selbst neu zu solchen Perspektiven zu finden, die tragen, Lebensgeist anfachen und zum Wagnis realisierter Träume anstacheln. So sind Provokationen äußerst wertige Gesellen unseres Alltags, unseres Denkapparats und unserer Interaktionskulturen.
Menschsein heißt Leben in Zonen zwischen Provokationen und Perspektiven
In irritationsstarken Zeiten bedarf es einer Rückbesinnung auf tragende Werte. Die christliche Welt kann hier auf den Schatz der Bibel, die Inspirationen ihrer Dichter, Autoren, Reformatoren und auf ihre Musik zurückgreifen und zu einem Menschsein ermutigen, das von Glaube, Liebe und Hoffnung, von der Bewältigung des Lebens aus einem Geist des Friedens und der Freude und auf die Kraft des Gebets zurückgreifen. Wo unser Leben bedroht, belastet und von unsäglichen Herausforderungen geprüft erscheint, dürfen wir in der Zuwendung zu Gott und im Tun der Liebe gewisse und tragfähige Perspektiven wagen. Mutig dem Zorn und Hass, der Wut und der Angst, der Hetze und den haltlosen Parolen Paroli bieten. Tragfähig sind Ehrlichkeit und Respekt, achtsame Worte (statt Hektik und lauter Hassbotschaften), das Grenzsetzen gegen die Aggressionen und lebensnivellierende Aktionen auf allen Ebenen, im Inland wie nach außen. Die Perspektive, die es zu gewinnen gilt, ist leicht und schwer zugleich: schwer, weil wir Irritationen, Anfeindungen und Böswilligen ausgesetzt sind, leicht, weil die Kraft der Liebe und des Glaubens uns zu bleibend Hoffenden macht. Provokationen sind Anlass, dem Glauben, der Wahrheit und gelebtem Mut sichtbar-konkreten Ausdruck zu verleihen.
Perspektiven haben mit Sicht zu tun. Mit dem klaren Hinsehen, Einsehen, Besehen und Voraussehen.
Der Freiburger Philosoph Martin Heidegger sprach von drei „Sichten“: er kennt die Umsicht (d.h. das praktische Hantieren), die Nachsicht (mit Blick auf den Umgang mit anderen Menschen) und der Durchsicht (der sog. „Selbstbezug des Daseins“). Die „Durchsichtigkeit“ lässt quasi uns deutlich sehen, was es mit unserem Leben („Existenz“) auf sich hat. Diese Sicht auf das, was zählt, ist m.E. eine wichtige christliche Sicht-Achse: den Menschen sehen zu lernen als ein Wesen, das zur Hoffnung, zum Heil, zum Heimkommen zu Gott bestimmt ist.
Der Prophet Jeremia drückt es so aus: „Denn ich weiß, was für Gedanken ich über euch habe, spricht der HERR, Gedanken des Friedens und nicht des Unheils, um euch eine Zukunft und eine Hoffnung zu geben.“ (Jer 29,11)
Die Provokation zur Zukunft ist ein göttliches Werk, eine herrliche Angelegenheit.