Unsere ‘diffuse Gesellschaft’ und ihre Aggression: Meinungsvielfalt versus Positionsmeinung. Zur allgemeinen Diskussions- und Debattenlandschaft

von | 15.06.2024 | Kommunikation, Ethik, Gesellschaft, Umgangsformen, Allgemein, Werte

Wo Unklarheit wächst und die Unsicherheiten zunehmen, herrscht Chaos. Chaos in der Kommunikation sowie Verachtung fremder Positionen. Und Hass gegen das Nicht-Verstandene oder Andersartige. Ein Plädoyer für eine gesunde Umgangskultur mit Meinungen in Wort und Werk. Und eine Forderung an die “Meinungsmacher” in Print und digitaler Welt, Achtung und Wertschätzung Raum zu gewähren. Dies könnte den Medienkosmos atmosphärisch drastisch verändern und der Diffusion entgegenwirken. 

 

Bild: Canva

 

Farben als Kommunikationsmedium 

Farben sprechen Bände. Dieses Jahr ist Fuzzy Peach bzw. Peach Fuzz angesagt. Auserkoren vom legendären Pantone-Institut (www.pantone.com) als DIE Farbe für 2024. Aber auch Gelb ist in der aktuellen Kleidermode in. Genauer: Buttergelb, neben Salbeigrün. Dezentes Farbspiel also, das das Innere so filigran wie subtil zum Leuchten bringt und durchaus “Mut zum Tragen” erfordert. 

Farben kommunizieren. Sie bestimmen unsere Appearance und lassen etwas von dem erahnen, was in uns steckt. 

Das große Farbspiel des Lebens zwischen uns Menschen hat aber auch eine verbale Seite. Mit Worten inszenieren wir uns, mit Worten verbinden wir uns oder grenzen uns voneinander ab. Mit Worten kann man Großes bewirken, aber auch Kriege entfachen. Worte führen zum Höllenritt oder lassen den Himmel in den schönsten Farben glühen. 

Worte machen wesentlich unser Menschsein aus: Worte verdeutlichen, was in uns steckt, was uns am Herzen liegt oder was (klar oder nebulös) eben “unsere Meinung” ist. 

 

“Meinungsvielfalt ist das beste Mittel gegen Meinungseinfalt.” 

Helmut Glaßl 

Meinungen können schön sein. Heiter. Aber auch belästigend und unangenehm dominant. Wo die weiße Weste fehlt, braucht es weiße Schuhe – die Sneaker Society lässt grüßen. Und wo der Umbau der Montage- und Material-Industrie zur Digitalökonomie (“predictive economy”) mit ihren imponierenden Aussichten geschieht, herrscht irritiertes Staunen oder gar angstvolle Beklommenheit, weil die Menschen das Tempo an Turnarounds in Sachen Arbeit (New Work), Globalisierung, Gender Shift und Zukunft etc. kaum mehr bewältigen können. 

Meinungen können terrorisieren: Hetze, verbales Mobbing sind vom Schulhof bis zu den Social Media Channels intensiv präsent. Das ist kaum zu fassen in einem Land, in dem vor Jahren noch ganz andere (selbstverständliche!) Umgangsformen der Kommunikation galten. 

Die Debattenkultur in Deutschland wird von daher nicht zu Unrecht kritisiert. Denn in einem demokratisch gestrickten Land, wo die öffentliche Kultur mit ausgeprägten Parallel”kulturen” zu tun bekommt (oder gar dadurch geprägt und codiert wird!), braucht es Regeln und verbindliche Umgangsformen für Dialog, Diskurs und Diskussion. Das Barbarische und Wilde, das wir jeden Tag in unserem Land zu hören bekommen, darf nicht zur Norm avancieren! Nicht umsonst tobt gerade ein Kampf um die Neuordnung und perspektivische Gestaltung der Bildungslandschaft von der Kita bis zum universitären Betrieb. 

In einem zunehmend feindseligen Milieu medialen und faktischen Meinungsstreits geht es um nichts weniger als um “gute Werte”, klare Positionen, gepaart mit stimmiger Toleranz. Wo argumentationsfrei andere niedergebrüllt oder gar physisch attackiert werden, hört nicht nur der “Spaß auf”, sondern hier sind Grenzen elementar überschritten, die es neu zu ziehen und markieren gilt. Sine dubio! 

M.a.W.: Wo kulturell, religiös und lebensweltlich unterschiedliche Welten aufeinandertreffen und nicht mehr der historisch stark prägende christliche Grundkonsens gilt, ist ein Rekurs auf tragfähige und vermittelbare Normen, Etikette und “Meinungs-Umgangsformen” nötig. 

 

Meinungsterror und Toleranzfuror 

Meinungen auszuhandeln, ist Teil einer demokratischen Öffentlichkeit. Es ist zwar viel die Rede von Toleranz, von der Suche nach einem sinnvollen Konsens. 

Doch ist es nach wie vor eine gute Tugend, in diesem medialen Erwartungsorkan für alles offen und bereit zu sein – und dabei die eigene Position klar und prägnant zu definieren und zu vertreten. 

Zwischen den manchmal geradezu terrorisierend auftretetenden Positionen, die keine zweite Stimme und Option zuzulassen scheinen, und dem “Alles ist ok”-Modus gibt es die Notwendigkeit, mit Herz und Hirn das Eigene zu (er)kennen und die persönlich relevanten Werte im “Strom der Meinungen” eben gerade nicht zu verkennen oder gar zu verleugnen. 

Bei oft in Meinungsgräben verbuddelten Positionen ist es Zeit, wieder einen Blick für das andere, den anderen, die anderen zu bekommen und statt einer Wand die Lücken zu sehen: 

„Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun“ 

Christian Morgenstern (Der Lattenzaun) 

 

Der Mut zum klaren Argument 

Die vorherrschende Meinungsvielfalt und der Mut zur eigenen Meinung können durchaus miteinander in Konflikt geraten. Alles offen zu lassen (und dabei “nicht ganz dicht” zu sein), ist eine Gefahr, die uns zu positionslosen “go with the flow”-Menschen machen kann. 

Doch neben dem Finden der eigenen Meinung ist vor allem auch der Umgang mit schwierigen, misslichen, aggressiven oder gar beleidigenden Äußerungen wichtig. 

Wenn Argumente wie Pfeile und ohne Halt und Grund auf uns geschleudert werden, ist es nicht einfach, die Contenance zu wahren und trotz und in allem Gelassenheit zu üben. 

Als basal relevante kommunikative “Normen” und Regeln können gelten: 

• eine klare Sprache und achtsame Wertschätzung des Gegenübers 

• ehrliche Argumente, transparente Logik und eine positive Haltung 

• Klären von Missverständnissen und der Mut, zu forsches Auftreten zu revidieren 

• Humor und das Vernachlässigen der “eigenen Eitelkeiten” 

• ein offenes Ohr für andere bzw. konträre Positionen und Meinungsäußerungen 

• “in digitalibus” gilt: Man sollte genau schauen, welche Quellen und Links man beachtet und welche am besten von vornherein bewusst der eigenen Wahrnehmungssphäre entzogen werden (was viel Ärger/Zeitverlust ersparen kann) 

• toxische Rhetorik darf als solche klar benannt werden, und die Abgrenzung von verletzender Sprache, grenzwertigen Inhalten und gemeinen Positionen ist Gesetz 

Dabei sollte man stets das Diktum Albert Einsteins im Hinterkopf haben: “Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.” 

 

Richtige Fragen können gesunde Kommunikation stiften 

Während des Schreibens an diesem Text ist mir ein Wort immer wichtiger geworden, genauer ein Zitat von Thomas Pynchon: 

“Wenn sie dich dazu bringen können, die falschen Fragen zu stellen, brauchen sie sich über die Antworten keine Sorgen zu machen.” 

Wie Sokrates Kommunikation und menschliche Interaktion von der Maieutik, der Kunst des Fragens (“Hebammenkunst”) her definiert, so ist es heute wohl wichtig zu sehen, wo falsche Fragen zu falschen Wegen und Antworten, zu prekären Zuständen und zu irritierter Kommunikation führen. 

Als Deutscher Knigge-Rat sind wir immer wieder darauf bedacht, Impulse für eine gewinnende, stimmige, aber auch klare und wirklichkeitsnahe Kommunikation in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. 

Die Diskussionslandschaft in unserem Land könnte weniger Aggression und Beleidigungen, dafür aber deutlich mehr ehrlich-offene wie wirklichkeitsnahe und wahrhaftige Rede vertragen. Mut zur Wahrheit und der Blick über die allgemeine Gemengelage hinweg – sozusagen eine Perspektive sub specie aeternitatis (Spinoza), unter Einbezug des Himmels – könnte hilfreich und heilsam sein. Zum kreativen ‘Spiel der Sprache’ gehört gerade auch die Farbenvielfalt von Liebe und Güte, von Zuwendung und Achtung. Im Streit der Meinungen brauchen wir das Rückgrat von Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, die das Schöne und die Integrität des Lebens und unseres Daseins neu zum Leuchten bringen können – in und zwischen den Zeilen und Zonen unseres ganz alltäglichen Lebens. 

Thomas Nisslmüller
Thomas Nisslmüller

Dr. habil. Thomas Nisslmüller lehrt als Privatdozent an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er war u.a. als Radiomoderator (in Charlotte, North Carolina) und als Gastprofessor in den USA tätig und hat einen Executive MBA in Media and Communication der Universität St. Gallen (HSG, Schweiz), der Université du Luxembourg sowie der University of California, Berkeley (UC Berkeley, USA), erworben.

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