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Welche Irritationen können damit verbunden sein, wenn man sich gedankenlos oder grundlos duzt?

Wer Du zu einer Person sagt, ohne diese zu kennen, signalisiert voraussetzungslose Nähe und Vertrautheit zum Nulltarif, also ohne dass irgendetwas Verbindendes gewachsen wäre, geschweige denn, sich in kritischen Situationen hätte bewähren können. Da muss man sich nicht wundern, wenn sich die betreffende Person überrumpelt oder vereinnahmt fühlt.

Von der Berliner Band „Laing“ gibt es einen sehr cleveren Acapella-Song mit dem Titel „Sagen Sie Sie“. Darin geht es um genau diese unangenehme Erfahrung, von einem Unbekannten (der hier nach Feuer fragt) mit dem Du überrumpelt zu werden: „Für mich klingt Du gleich nach Wir, nach vierhändig Klavier, / Du klingt nach: wir telefonieren. / Für mich klingt Du nach Urlaubsfahrten – Geburtstagskarten, / Du klingt, als wären wir Komplizen, könnten Sie mich bitte siezen.“

Zu einer perfekten Stilvorlage aus Knigge-Sicht machen den „Laing“-Song jedoch erst die darauffolgenden Zeilen: „Ich schlage vor, dass Sie und ich das Ganze von vorn probieren / Ich will Sie hier nicht lange triezen, nur dafür plädieren, / Sich zu siezen.“ Was sagen uns diese Songzeilen? Auch das Zurückweisen des aufgedrängten Dus kann Kränkungen auslösen. Darum sollte die Person, die ein Du ablehnt oder sich verbittet, dies nicht brüsk tun, sondern sich freundlich erklären: „Bin da etwas empfindlich, / Können Sie nicht ahnen, Sie kennen mich ja nicht …“

 

Sind Duzer generell sympathischer und unkomplizierter als Siezer?

Einerlei, ob man von einer Person geduzt oder gesiezt wird – die Entscheidung, ob Sie tatsächlich mit ihr warm werden, gut klarkommen oder gar befreundet sein wollen, hängt in den seltensten Fällen an einer Formalie. Warmherzigkeit, Güte, Charaktergröße, Zugewandtheit, Menschlichkeit zeigen sich erst im näheren Umgang. Deshalb ziehen Sie in der Beurteilung von Siezern vs. Duzern keine voreiligen Schlüsse, weder in die eine noch in die andere Richtung.

Möchte man in einer Audienz ernsthaft den Papst duzen? Oder auf einem Empfang den Dalai Lama? Oder den deutschen Bundespräsidenten? So wie notorische Siezer ihre „schwachen Momente“ haben, in denen sie auch mal ein rasches Du akzeptieren, so beschleicht selbst notorische Duzer in manchen Situationen das Gefühl, dass man besser beim Sie bleiben sollte. Unterschiedliche Situationen und Personen verlangen nach unterschiedlichen Verhaltensweisen – eine Grundregel des Freiherrn Knigge, an deren Gültigkeit sich bis heute nichts geändert hat.

 

Muss ich ein von Älteren oder Vorgesetzten angebotenes Du annehmen, auch wenn ich es als unpassend oder unangenehm empfinde?

Jeder Mensch hat sein eigenes, individuelles Tempo – sei es beim Essen oder beim Laufen, sei es beim Feiern, aber eben auch beim Warmwerden mit Mitmenschen. Das ist in Ordnung und verdient Respekt. Deshalb: Wenn Sie von Älteren oder Vorgesetzten das Du angeboten bekommen, so gibt es keine Verpflichtung, es anzunehmen. Sollten Sie das angebotene Du als (noch) unpassend, übereilt oder sogar als unangenehm empfinden, tun Sie sich keine Gewalt an. Weisen Sie freundlich auf ihre Bedenken hin, ohne das Gegenüber durch unangemessene Schärfe vor den Kopf zu stoßen.

„Wären Sie mir sehr böse, wenn wir noch eine Weile beim Sie bleiben würden?“, oder: „Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber das geht mir gerade etwas zu schnell!“ – Sätze, mit denen Sie klar zu verstehen geben, dass Sie ein Wörtchen mitzureden haben möchten, Sätze, die für den, der im guten Glauben vorgeprescht ist, doch nichts Verletzendes haben.

Umgekehrt: Wenn Sie einer Person das Du anbieten, so sollten Sie dies nicht im Duktus der Gönnerhaftigkeit tun, als würden Sie jemandem einen Gefallen erweisen, auch dann nicht, wenn es sich um Jüngere oder hierarchisch Untergeordnete handelt. Denken Sie immer die Möglichkeit mit, dass das angebotene Du als unpassend oder übereilt empfunden wird. Die besten Sätze, um Ihrem Gegenüber Raum zu geben, sind Fragesätze: „Wäre es denn in Ihrem Sinne, wenn wir uns duzen?“, oder noch behutsamer: „Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns schön langsam vom Sie verabschieden?“

Grundsätzlich gilt: Reden hilft. Wie auf allen Feldern zwischenmenschlicher Interaktion ist auch im beruflichen Austausch das Wechselseitigkeitsgebot zu achten. Wo das Wechselseitigkeitsgebot nicht erfüllt ist, scheitert Kommunikation. Als verantwortungsbewusste Führungskraft zeigen Sie Wertschätzung gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern egal welcher hierarchischen Ebene dadurch, dass Sie deren unterschiedliche Empfindungen und Geschwindigkeiten des miteinander „Warmwerdens“ respektieren. Ihre Vorstellungen müssen nicht zwangsläufig den Erwartungen anderer entsprechen. In einer Firma pauschales Duzen zur Aufnahmebedingung zu machen, widerspricht dem Geist von Mündigkeit und Selbstbestimmung.

 

Wie umgehen mit missbräuchlichem Duzen (Zwangsduzen), die persönliche Nähe nur vorspiegelt, reale Statusunterschiede kaschiert und übergriffig daherkommt?

Ein spezieller, aber gar nicht mal so seltener Fall der Überrumpelung ist der in Arbeitsverhältnissen, in denen das kollegiale Du weder durch Sympathie noch durch gelebte Kollegialität gedeckt ist, sondern eine reine Floskel bleibt oder – noch schlimmer – bloß der Kaschierung eines schlechten Arbeitsklimas und des realen Machtgefälles dient. In diesen Fällen gilt es besonders gut abzuwägen, ob Sie sich gegen Ihren Willen vereinnahmen lassen oder nicht lieber freundlich auf dem Sie beharren (siehe Nr. 6).

Besonders hier ist es bei der Ablehnung des Du bedeutsam, darauf zu achten, die Weigerung höflich zu verpacken. Wenn Sie dankend und freundlich ablehnen, erhöhen Sie Ihre Chancen, dass Ihr Wunsch verstanden und respektiert wird.

 

Derzeit ist häufig die Rede von Respekt und Distanz. Grenzen zu erkennen und anzuerkennen, sei es im Privaten, sei es im Berufsleben, ist mittlerweile unumgänglich. Gilt das Erkennen und Anerkennen von Grenzen in Anreden nicht?

Übergriffiges Verhalten im Berufsleben, vor Jahrzehnten nicht selten mit ohnmächtigem Achselzucken oder Augenrollen hingenommen, wird heutzutage nicht mehr geduldet. Dass es sich bei Machtmissbrauch in beruflichen Abhängigkeitsverhältnissen und dem, was als Zudringlichkeit beginnt, um als sexualisierte Gewalt zu enden, nicht bloß um ein paar wenige bedauerliche Einzelfälle handelt, hat die #MeToo-Bewegung drastisch aufgezeigt.

Kein seriöses Unternehmen kommt heute mehr ohne Code of Conduct aus, der den korrekten Umgang im Haus sowie mit Kundinnen und Kunden regelt. Eine verbindliche Unternehmenskultur gilt inzwischen als Visitenkarte jeder Firma, die etwas auf sich hält. Was richtig oder falsch ist, erlaubt und unerlaubt, entscheidet nicht mehr eine Autorität an der Konzernspitze, sondern der Verhaltenscodex.

Wer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegen körperlich übergriffiges Verhalten sensibilisiert, sollte dieselbe Sensibilität auch gegenüber verbalen Übergriffigkeiten an den Tag legen. Paradoxerweise sind diese Entwicklungen in manchen Branchen zuletzt gegenläufig – immer distanzierter und respektvoller im persönlichen Umgang, immer distanzloser und „umarmender“ im verbalen Umgang.

Der übliche Verweis auf angloamerikanische Gepflogenheiten, wo es kein Sie gebe, hinkt, weil die angloamerikanische Höflichkeitskultur über subtile Respektsfloskeln und Ergebenheitsadressen verfügt (man denke etwa an die Allgegenwart von „If you don’t mind …“), von denen wir im Deutschen nur sehr spärlich Gebrauch machen. Immer distanzierter im persönlichen Umgang, immer distanzloser in der Ansprache – diese Diskrepanz dürfen Sie durchaus benennen, erst recht, wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihre eigene Intimsphäre durch das ungefragte Du und die damit einhergehende Vertraulichkeit nicht hinreichend respektiert wird.

 

Handschlag und siezen statt Umarmung und duzen – ist das noch zeitgemäß?

Alle Welt umarmt sich. Mittlerweile ist kein EU- oder G7-Gipfel mehr denkbar ohne Innigkeitsorgien zwischen Ministerinnen, Präsidenten, Diplomatinnen. Zur Erinnerung: Wer sich da so telegen herzt, befindet sich im besten Falle in einer mehr oder weniger funktionierenden Arbeitsbeziehung. Staatliche Interessensgegensätze und machtstrategische Erwägungen bleiben selbst dort tonangebend, wo man für gemeinsame Werte einsteht und redlich um Verständigung und Kompromisse ringt.

Deshalb wäre gerade in staatspolitischen Angelegenheiten der völlig aus der Mode gekommene gute alte Handschlag weiterhin die adäquatere Begrüßung. Er signalisiert Offenheit zum Gespräch („ich bin unbewaffnet“) bei gleichzeitiger Distanzwahrung aus menschlichem Respekt.

Mir scheint, zwischen demonstrativem Umarmungs- und Duzfuror gibt es eine Parallele. Sie besteht im kumpelhaften Überrennen all dessen, was man früher als achtungsvolle Distanz praktiziert hat – einer selbstbewussten Haltung, bei der man den anderen nicht vereinnahmt und zwischenmenschlichen Beziehungen Zeit gibt, zu wachsen und sich zu bewähren.

Wir sollten uns fragen: Können wir authentisch bleiben, wenn wir die Symbolik der fein abgestuften Sympathiebezeigungen preisgeben und alle Welt unterschiedslos umarmen respektive duzen? Kommt uns nicht die Fähigkeit zur Differenzierung abhanden, wenn wir jedes Gegenüber mit maximaler Emphase überschütten? Und gehen durch permanentes Upgraden (Nach-oben-Nivellieren) unserer Umgangs- und Anredeformen nicht Nuancen im Prozess individueller Annäherung verloren?

Bei Aristoteles steht: „Leute mit vielen Freunden, die sich mit jedem gleich vertraut stellen, sind eigentlich niemandes Freund.“ Ohne jeden Zweifel läuft die Gleichschaltung von Umgangsformen auf eine inflationäre Entwicklung hinaus. Wie sollte es auch anders sein? Wo jeder Mensch ungefragt umarmt und geduzt wird, verliert die Umarmung als Geste besonderer  Vertrautheit ihre Symbolkraft und die Du-Anrede ihre auszeichnende Wertigkeit.

 


Dr. phil. Horst Launiger und Jonathan Lösel

Horst Lauinger studierte Geisteswissenschaften in Salzburg und Marburg an der Lahn. Im Jahr 2000 übernahm er die Leitung des Manesse Verlags in Zürich. Seit drei Jahrzehnten in der Buchbranche tätig, beschäftigt er sich tagtäglich mit klassischen Stilfragen im engeren und weiteren Sinne, also mit der Abwägung, welcher verbale oder nonverbale Ausdruck der jeweils angemessenste ist.

Fotocredit: Olaf Petersenn

Jonathan Lösel ist Vorsitzender des Deutschen Knigge-Rats und neben seiner Projektleitertätigkeit als Knigge- und Stil-Coach tätig.

Als moderner Gentleman unterstützt er Menschen dabei, ihren persönlichen Kleidungsstil zu entdecken und ihr Auftreten durch zeitgemäße Umgangsformen zu unterstreichen, sodass sie dauerhaft im Gedächtnis bleiben.

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