Der Wald

von | 14.05.2022 | Allgemein, Gesellschaft

Bild: Shutterstock

Kaum eine andere Nation hat eine derart tiefe Beziehung zum Wald wie wir Deutschen. Das mag an unserer frühen Geschichte liegen, von der der römische Schriftsteller Tacitus berichtet, dass Germanien „vor Wäldern starre“. Erst im Lauf von Jahrhunderten wurde dem Wald Lebensraum abgewonnen. Das spiegelt sich in vielen alten Ortsnamen, die auf -rode oder -roda enden. Aber immer noch besteht die Fläche Deutschlands zu rund einem Drittel aus Wald, ohne freilich damit als Industrienation in Europa aus dem Rahmen zu fallen. Unsere Mittelgebirge heißen eigentümlicherweise oft „Wald“: vom Schwarzwald bis zum Bayerischen Wald, vom Thüringer Wald bis zum Westerwald, vom Oberpfälzer Wald bis zum Odenwald oder rund um Kassel vom Kellerwald über den Habichtswald zum Reinhardswald. Die Reihe lässt sich mühelos fortsetzen. Der Wald ist Geschichte und Gegenwart zugleich.

Romantisches Lebensgefühl

Ein besonders inniges, ja sinnliches Verhältnis zum Wald hatte bekanntlich die Romantik. Der Wald war Sehnsuchts- und Zufluchtsort schlechthin. Dieser Epoche verdanken wir all jene Lieder, die vom Wald schwärmen und die früher vorzugsweise von Männerchören mit ganzer Inbrunst vorgetragen wurden: „Wer hat dich, du schöner Wald“,  verfasst von Joseph von Eichendorff, vertont von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Oder „O Täler weit, o Höhen / o schöner, grüner Wald“, ebenfalls von Joseph von Eichendorff und die Melodie wieder von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Der Wald, heißt es, wölbt sich wie ein „grünes Zelt“ über mir, beschützt mich und lässt mich zu mir selbst kommen, während „draußen, stets betrogen, […] die geschäft’ge Welt“ saust.

Aber im Wald kann’s auch anders sein – diese Gefühle kennt die Romantik ebenso: Bedrohlich ist er, finster, undurchsichtig. Nirgends spüren wir das deutlicher als in den Märchen der Brüder Grimm. Wer verläuft sich da nicht alles und stößt auf Gefahren und seltsame Gestalten, die es böse oder gut mit einem meinen: Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen. Der Wald wird zum Spiegelbild unseres Innenlebens: Das Leben ist den unterschiedlichsten Mächten und Gefährdungen ausgesetzt, aber kann sich bewähren. Und der Weg aus dem Wald heraus ist der rettende Weg in die Freiheit.

Wald als Wirtschaftsraum

Nie jedoch war der Wald, wie ihn die Romantiker verklärten, reine, unberührte Natur, sondern schon damals ein Kulturraum, der bewirtschaftet wurde. Es kommt nicht von ungefähr, dass das heute viel beschworene ökologische Prinzip der „Nachhaltigkeit“ erstmals durch Hans Carl von Carlowitz (1645-1714) für die Fortwirtschaft beschrieben wurde: Es wird nicht mehr Holz im Wald geerntet, als auch wieder nachwächst. So bleibt das Gleichgewicht gewahrt. Das braucht ein Denken und Handeln in langen Zeiträumen!

Immer noch – und seit der Corona-Pandemie verstärkt – erwarten wir vom Wald Rekreation, Entspannung oder unbeschwertes Naturerleben, machen uns aber gar nicht bewusst, dass er stets auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist – und das nicht nur für den Tourismus. Gegenwärtig gibt es in Deutschland 28.000 Forstbetriebe, die immerhin 3 % zum Bruttoinlandsprodukt beitragen. Winterstürme wie etwa Kyrill oder die Borkenkäferplage haben ganze Landstriche verändert. Die wirtschaftlichen Einbußen sind enorm. Als ich jüngst nach vielen Jahren den Wald aufsuchen wollte, der vom Gutshof meiner Großeltern in ein kleines Tal führte, gab es ihn nicht mehr. Wo einmal Wald stand, war jetzt alles kahl. Das ist Realität!

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Wälder verändern sich. Der Klimawandel macht auch vor ihnen nicht Halt. Und das, obwohl gerade Wälder einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Von allen, die in der Forstwirtschaft Verantwortung haben, verlangt das weitreichende und weitblickende Entscheidungen: Welche Baumarten werden sich als „zukunftsfähig“ erweisen? Entschieden werden muss jetzt, das Ergebnis zeigt sich erst in Jahrzehnten.

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Offen für alle

Ebenso übersehen wir oft, dass wir uns, wenn wir einen Wald betreten, auf dem Eigentum anderer befinden: sei es Staatsforst, sei es Körperschafts- oder Privatwald. Das deutsche „Forstgesetz“ räumt allen die Möglichkeit ein, sich zu „Erholungszwecken“ im Wald aufzuhalten und dort zu wandern, zu walken oder zu joggen. Aber nicht alles, was Spaß macht, ist deswegen erlaubt. Es geht nur dann ohne Konflikte ab, wenn das eigene Verhalten von Respekt gegenüber der Natur und Rücksichtnahme auf unterschiedliche Interessenslagen (Erholungssuche, Waldbewirtschaftung, Jagd usw.) geprägt ist. Wälder sind zum Glück – von Aufforstungsbereichen abgesehen – nicht eingezäunt und mit Schildern versehen: Betreten verboten!

Wald ist keineswegs so selbstverständlich, wie wir das gemeinhin voraussetzen! All die schönen und bisweilen bewegenden Erfahrungen im Wald – bis hin zum derzeit angesagten „Waldbaden“ – bleiben nur dann möglich, wenn wir ihn als Teil der ganzen Schöpfung ansehen, zu der auch wir gehören, und behutsam mit ihm umgehen. Also: Etwas mehr Achtsamkeit ist angesagt – und vielleicht auch wieder etwas mehr Romantik. Täte uns allen gut – auch dem Wald.

 

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[1] https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Briefmarken/2021/2021-10-01-sonderpostwertzeichen-klimaschutz.html


Prof. Dr. Martin Hein

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