Brauchen wir Knigge noch in unserer digitalen Welt?

von | 01.10.2016 | Digitalisierung, Umgangsformen

Das digitale Zeitalter hat aus dem Menschen nicht nur einen Prosumer gemacht. Die Digitalisierung hat die Kommunikation verändert. Hat der Aufklärer Adolph Knigge hier noch Platz?

Sie trägt schwarze Lederhosen und ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Cool down“. Sie steht lässig auf der Bühne des „Kaufleuten Klub“ in Zürich. Der Saal mit riesiger Galerie ist brechend voll. Was die junge Lady an jenem Mittwochabend Hunderten Menschen berichtet, lässt sich auf eine Formel reduzieren: „Schalte dein Handy aus. Gönne dir Pausen vom digitalen Alltag. Sprich mit dem Menschen von Angesicht zu Angesicht und nicht nur über Facebook.“ Ihre Auftritte spülen ihr viel Geld in die Kasse. Ihre simplen Bücher auch.

Foto: Shutterstock

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Das WEB hat die Information demokratisiert und dem Menschen Macht gegeben

Die Digitalisierung hat den Menschen verändert. Vor allem ihn. Der archaische Mensch, dessen epochale (R)Evolution von der Agrargesellschaft über die Industrialisierung bis zur Wissens- und Informationsgesellschaft reicht bewegt sich heute in einer digitalen Umwelt. Die Auswirkungen auf seine Psyche sind markant: Reizsucht und Einsamkeit gehen mittlerweile parallel einher. Keine fünf Minuten ohne Smartphone, Posts oder Tweets; keinen Tag ohne Internet, sozialen Plattformen, Blogs oder Youtube. Der verkabelte und vernetzte Mensch braucht Messages und wartet auf die bimmelnd-ratschende Geräuschkulisse eingehender  Nachrichten auf dem iPhone, dem MacBook oder dem Outlook-Postfach. Bleiben die „News“ aus fühlen wir uns gelähmt und blockiert, nicht mehr wichtig, ungebraucht. Wir glauben an  unsere virtuellen Freunde die wir noch nie gesehen haben. Wir zeigen der Öffentlichkeit was wir essen, wo wir unsere Freizeit verbringen und auf welchen Partys wir die Hosen herunter lassen. Selbstbestätigung über das Netz. Echtes Selbstwertgefühl ist etwas anderes.

Die Digitalisierung basiert auf der Entwicklung des Webs. Diese reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Im Jahr 1990 begann mit der Abschaltung des Arpanet die kommerzielle Phase des Internets. Und ab dann ging’s zügig voran mit Technik und gesellschaftlich-kulturellem Wandel Das Internet macht uns sukzessive unabhängiger von allen Fachleuten die noch vor 25 Jahren Wissen verwalteten. Beispiel: Wir selbst – und kaum noch Expedienten in Reisebüros – buchen unsere Flüge über jeweilige Homepages selbst; dank Web 2.0  erklimmen wir Expertenstatus in komplexen Wissengebieten. Wir wissen mehr über Dinosaurier oder schwarzen Pfeffer, als manche Experten aus Artenforschung oder Biologie. Das Web sorgte für die Demokratisierung der Information. Das Web verlieh dem Individuum Macht. Das Web brachte aber auch Millionenstarke Communities hervor; dort zeigen sich „souveräne User und Prosumer“ als Opinion Leader, – nicht selten gefürchtet von der Industrie. Jene Meinungsführer  teilen Unternehmen in „gut oder schlecht“ ein und ihre Anhänger, meist Markenuntreue Menschen, lassen sich von diesen Opinion Leader beeinflussen und animieren. Die Folgen für unternehmerische Absatzmärkte sind bisweilen fatal.

Wandel der Zeit – Die Notwendigkeit der Kommunikation bleibt, doch die Sprache ist eine andere

Die Digitalisierung hat „die grössten, revolutionären Auswirkungen auf den Menschen, als alle Epochen zuvor“, berichtet Prof. Dr. Jo Groebel, Medienpsychologe und Präsident des Deutschen Digital Instituts in Berlin. Die Auswirkungen reichen in alle Lebensbereiche. Die Digitalisierung verändert menschliches Handeln, verändert Kultur und vor allem eines – die Kommunikation.

„Ich lebe Kommunikation“, – irgendwann habe ich diesen Satz geprägt. Er stimmt auch. Denn Kommunikation ist alles. „Man kann nicht nicht kommunizieren“, lautet die bekannteste Aussage von Paul Watzlawick, dessen Bücher ich nahezu alle gelesen habe.

Wir kommunizieren, ob in  der digitalen Welt gefangen oder in analoger Welt zuhause, immer: unsere Kleidung, unsere Körperhaltung, unsere Wortwahl, unser Tonfall, unsere Mail, unsere SMS, unser Briefpapier, der Unterschied zwischen handgeschriebenem Brief oder Computerlettern, – alles ist Kommunikation und Kommunikation erlaubt wichtige Rückschlüsse auf unsere vielschichtige Persönlichkeit.

Das digitale Zeitalter bringt nicht nur rhythmisch neue technologisch ausgefeilte Kommunikationstechnologien hervor, – das digitale Zeitalter hat auch unsere private Sprache verändert: wir schreiben in „kleinbuchstaben“ sms und Mails im Stakkatostil und ohne persönlicher Ansprache. Wir erhalten über unser iPhone Wort-Vorschläge., die wir automatisiert ins Textfeld drücken ohne weiter darüber nachzudenken, wie das Wort richtig geschrieben wird.  Wir nutzen „Voice over IP“ und verlernen dabei immer mehr Grammatik, Orthographie und Redekunst. Die Rechtschreibreformen wollten Kommunikation vereinfachen und dennoch haben sich die Fehler in der Rechtschreibweise bei Schülern verdoppelt. Warum sollte ich auch Schiffahrt mit drei „F“ schreiben?

Knigge in der digitalen Welt

Knigge in der digitalen Welt?

Medien und Wirtschaft in Bedrängnis – Wie lösen wir den goldenen Knoten?

Das digitale Zeitalter hat ebenso die kommerzielle Kommunikation verändert.  Sie stellt komplett  neue Ansprüche an die kommerzielle Kommunikation, also an Werbung, PR und Corporate Communication. Längst darf es Marketingleitern in Industrien nicht mehr genügen, „Einwegkommunikation“ über TV-Spots zu lancieren, denn Menschen schauen heute ganz anders fern als zu jener Zeit, als das TV-Gerät eines von drei genutzten Tagesmedien war. Heute sprechen wir in der Kommunikation der Industrien von der Herausforderung des „transmedialen Storytellings“, von integrierten Medienkampagnen, die sich mehr an Stimmungs- und Situationsmanagement orientieren, als an demographischen Merkmalen ehemaliger Konsumenten, die sich mittlerweile zum Prosumer entwickelt haben.

Und die Medien? Anzeigenschwund. Wer – um Himmels Willen – bucht heute noch 1/3 Seite Werbung, rechts unten, 4 Colour, zum Preis von 10’000.- Euro? Auch der Werbebanner im Internet hat ausgedient, die Unterbrecherwerbung im TV ebenso. Die RTL Group investiert derzeit 120 Millionen Euro in die Entwicklung neuer, interaktiver Werbeformate für Fernsehen und Internet, die nicht jene brutalen Widerstände (Reaktanzen) beim Menschen aufbauen sollen, sondern ihn durch neue Methoden und Instrumente in die Werbung hineinzuziehen versucht. Der „emotional approach“ ist gefordert, wobei die Medien in den deutschsprachigen Ländern Europas weiterhin nach der Zauberformel suchen, die den „goldenen Knoten ihrer Umsatzmisere“ zum Platzen bringt.

Freiherr Adolph Knigge sollte ins digitale Zeitalter gebeamt werden

Die Kommunikation im Wandel. Privat und kommerziell. Und weil das so ist, setze ich mich auf allen Ebenen für gute, zielgerichtete und sinnstiftende Kommunikation ein. Doch eines dürfen wir dabei niemals vergessen: Kommunikation basiert auf Worten. Und Worte auf Gedanken. Kommunikation entspringt unseren Gedanken.

Gedanken haben mit Bewusstsein zu tun. Dem Bewusstsein von uns selbst und unserem Blick auf unsere Mitmenschen. Wohl genau deswegen fasziniert mich das Gedankengut von Freiherr Adolph Knigge: „Über den Umgang mit Menschen“ ist ein Werk, das Knigge als Aufklärer zeigt, der mit seinem Werk den Bürgern eine Hilfe an die Hand geben wollte, um sich „am Hofe zurechtzufinden“. Knigge wollte den Bürger zu einem emanzipierten Wesen erziehen, das nicht „am verdorbenen Leben“ teilhabe.

Genau diesen Knigge brauchen wir heute. Genau diesen Aufklärer, den wir mit ein wenig Kreativität flugs in unsere digitale Zeit hineinheben können, um Menschen wieder daran zu erinnern, dass ihre Kernaufgabe gerade als souveräne, emanzipierte, wissende Individuen, der Umgang mit dem Menschen ist. Von Angesicht zu Angesicht. Im Respekt zueinander.

Die Digitalisierung hat die Kommunikation verändert. Die Digitalisierung sollte nicht unser persönliches Interesse am Mitmenschen verändern und uns davon entheben im Gespräch und in der Auseinadersetzung mit dem Anderen den „richtigen Ton zu treffen“.


Christian Grass

Christian Grass lebt Kommunikation in verschiedenen Facetten: Als Schriftsteller unterhält und inspiriert er eine grosse Lesergemeinde. In seiner Funktion als Kommunikator für die Industrie setzt er Sprache als Instrument zur Emotionalisierung von Marken und Produkten ein. Über kommunikative Massnahmen hilft er benachteiligten Menschen in Südafrika.

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