Klarheit in Debatten

von | 03.02.2016 | Kommunikation

Warum der Meinungsbrei uns nicht von der Pflicht zur Wahrhaftigkeit entbindet

Unsere Debattenkultur ist von einem gefährlichen Virus befallen: Meinungsnarrative zählen heute oft mehr als die Fakten. Dieser Virus ist längst auch außerhalb des Internets aktiv. Doch wer die Realität ignoriert oder sich die Fakten zurechtbiegt, bis sie zur eigenen Meinung passen, verzerrt die öffentliche Wahrnehmung. Die oberste Devise der Debattenkultur lautet deshalb: Klarheit.

„Das deutsche Kabarett ist auf dem Terror-Auge blind.“ So hat der Autor Reinhard Mohr einen Beitrag überschrieben, in dem er die einseitige Fixierung der deutschen Satire auf den ‚bösen Westen‘, seine Politik und seine Konzerne anprangert. In Zeiten, in denen – auch – Probleme auf dem Tisch liegen, deren Ursprung erst einmal nicht rechts liegt. Damit verzerren die Kabarettisten die Wahrnehmung gesellschaftlicher Tendenzen. Das ist ein Symptom unserer meinungssüchtigen Debattenkultur.

Bei mir rennt Reinhard Mohr mit seiner Analyse offene Türen ein. Auch ich habe den Eindruck: Wir übernehmen viel zu leicht Meinungen und hinterfragen sie viel zu wenig. Zum Beispiel von Kabarettisten, aber auch von anderen Sendungsbewussten. Der Ego-, Meinungs- und Beschleunigungsdruck der digitalen Kommunikation ist auf unsere Debattenkultur als Ganzes übergesprungen. Wir nehmen Meinungen einfach als gültig hin. Auch wenn sie sich den Fakten entziehen oder sie einseitig beleuchten.

Der Schock über die Anschläge von Paris sitzt noch tief, schon kennen die Kabarettisten wieder nur noch ihre Standardziele: die Seehofers, VW-Bosse und Staatsbeamten. Nicht, dass es irgendeinen Anlass gebe, die mit Kritik zu verschonen. Doch verzerrt diese einseitige Fixierung nicht den Blick darauf, was in diesen Zeiten wirklich zählt? Was die Menschen wirklich bewegt? Und ist es denn fair, jeden „besorgten Bürger“ gleich als Nazi einzuordnen? Und jeden Politiker, der auf ihn zugeht, gleich mit?

Diese Fragen sind schwierig zu beantworten, denn die Gefahr einer rechten Radikalisierung scheint dieser Tage sehr real. Doch das darf nicht dazu führen, dass wir Fakten einfach ausblenden oder umdeuten. Dieser Virus greift um sich. Auf Absender-Seite, indem wir als Debattenteilnehmer unsere Kompetenzen überschätzen. Wir wissen jede These rhetorisch zu rechtfertigen. Kabarettisten tun das, Moderatoren tun das, auch Redner tun das. Notfalls, indem sie sich die Wahrheit zurechtbiegen.

Auf Empfängerseite krankt die Debattenkultur daran, dass wir alle da mitspielen. Ich nehme mich da gar nicht aus. Wir vergessen einfach, dass Kabarettisten keine Historiker oder Politikwissenschaftler sind, und schon gar keine Politiker mit Gestaltungsauftrag. Wir lassen die Debatten aus dem Ruder geraten und mischen sogar noch fröhlich mit. Hauptsache beteiligen, Hauptsache senden.

Höchste Zeit gegenzusteuern. Denn wenn wir unsere Pflicht zur Klarheit in Debatten vernachlässigen, dann geben wir unsere wichtigste Kulturtechnik der Beliebigkeit preis: die Kommunikation als Ganzes.

Foto: Shutterstock

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Führt Wahrheit zur Klarheit – oder umgekehrt?

In schwierigen Debatten sind wir schnell mit der Forderung bei der Hand, jemand möge uns die ‚Wahrheit‘ sagen. Eine Steilvorlage für die selbsternannten Klartexter mit ihren einfachen Antworten.

Doch mit der Wahrheit ist das in Debatten so eine Sache. Wahrheit ist eine moralphilosophische Kategorie. Wenn wir jemandes Aussage daran messen wollen, ob sie „wahr“ ist, stellen wir sie also in einen wertenden Kontext. Gestehen wir jemandem Wahrheit zu, heißt das, dass wir demjenigen glauben oder vertrauen. Wir halten seine Aussage für „wahrhaftig“ und erlegen dieser Person damit eine moralische Verpflichtung auf. Wahrhaftigkeit wird nämlich definiert als „sittliche Forderung der Übereinstimmung von Aussage und Überzeugung.“[i]

Ich glaube: Die Wahrheit bekommen wir in Debatten eben nicht immer zu hören – und zwar deshalb, weil sie oft niemand kennt. Oft können wir nicht einmal selbst sicher sein, ob wir gerade die Wahrheit sagen, selbst wenn wir davon überzeugt sind. Die meisten Debatten sind nun einmal in die Zukunft gerichtet – und die Faktenlage deshalb nicht endgültig. Niemand weiß wirklich, was sich irgendwann einmal als wahr herausstellen könnte – meist gibt es einfach unterschiedliche Theorien.

Doch die Forderung nach Wahrhaftigkeit dürfen wir stellen. Soweit es Debattenbeiträge betrifft, behaupte ich sogar: Wir müssen sie stellen. Als Redner, der über wichtige, lebensnahe Themen spricht, fühle ich mich der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Das bedeutet: nur das zu sagen, wovon ich überzeugt bin. Und die Fakten, mit denen ich meine Meinung begründe, auf den Tisch zu legen. So, wie sie sind. Nicht nur die, die gerade zu meiner These passen. Und vor allem unverfälscht – nicht so, wie es für meine Absichten am angenehmsten ist.

Das ist ein wichtiger Grundstein der Klarheit in Debatten: wahrhaftig zu sprechen. Ich glaube, dass die Klarheit uns der Wahrheit näherbringt, nicht umgekehrt. Denn auf die letztgültige Wahrheit haben wir keinen Einfluss, und können sie auch nicht für uns beanspruchen. Klarheit dagegen können wir aktiv anstreben – durch Kommunikation.

Meinungsnarrative: Ein Virus der neuen Debattenkultur

Der gefühlte Zwang, sich an Debatten zu beteiligen und mit eigenen Thesen hausieren zu gehen, führt dieser Tage in vielen Themenfeldern zu verfälschten Debatten. Überall entstehen Meinungsnarrative, die mit ausreichender Verbreitung selbst zu gefühlten Fakten werden – aber eben keine sind.

Das geschieht dann, wenn Menschen mit öffentlicher Wirkungsmacht, zum Beispiel Redner, sich die Realität so zurechtbiegen, dass sie zu ihren Thesen passt. In manchen Fällen hält sich die falsche oder verzerrte Version dann über Jahre oder sogar Jahrzehnte in der öffentlichen Wahrnehmung. Das ist die Folge einer weiteren debattenverzerrenden Praxis: Fakten, Beispiele und Geschichten einfach von sekundären Quellen zu übernehmen, ohne sie zu hinterfragen oder auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Was dann passiert, entspricht dem Stille-Post-Effekt: Je öfter eine Aussage einfach übernommen wird, desto fehleranfälliger wird sie.

Eine dieser unendlichen Geschichten ist die Ketten-Fehlinterpretation der 7:38:55-Formel nach Albert Mehrabian. Ich kann gar nicht mehr zählen, in wie vielen Vorträgen, Büchern, Websites und YouTube-Clips bis heute der gleiche Unsinn in die Welt posaunt worden ist. Selbst professionelle Kommunikationstrainer scheuen sich nicht, den Worten die Bedeutung zu entziehen und den non-verbalen Aspekten die (beinahe) alleinige Wirkungsmacht auf der Bühne zuzuschreiben.

Zugegeben: Kaum eine Formel bietet so viel Nährboden für Missverständnisse wie „7:38:55“. Gerade deshalb ist Nachplappern gefährlich und Recherchieren Pflicht. Sollte man meinen. Leider haben sehr viele Interpretationen, die öffentlich kursieren, allerdings nur sehr wenig mit dem zu tun, was Mehrabian tatsächlich herausgefunden hat.

Prof. Albert Mehrabian stellte 1967 empirische Studien zur Rolle von nonverbaler Kommunikation an und konnte auf der Basis von zwei Experimenten wertvolle Erkenntnisse für die Kommunikation gewinnen. Im ersten Experiment wurden die Teilnehmer gebeten, die Gefühle eines Sprechers über die Betonung eines einzelnen Wortes zu beurteilen. Dabei lag die Besonderheit in der Inkonsistenz von Wortbedeutung und Tonfall (etwa „brutal“, vorgetragen mit positivem Ton). In einem zweiten Experiment wurde die Bewertung eines neutralen Wortes durch Fotos mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken (positiv, neutral, negativ) gestützt. Insgesamt zeigte sich, dass die Probanden im Zweifel nicht auf den Wortlaut vertrauten, sondern sich eher an Körpersprache und Stimme orientierten.

Mehrabian selbst brachte die Erkenntnisse folgendermaßen auf den Punkt: “It is suggested, that the combined effect of simultaneous verbal, vocal and facial attitude communication is a weighted sum of their independent effects with the coefficients of 07, 38, 55.”[ii] Das ist richtig – und missverständlich. So wurde das Ergebnis der Studie oftmals aus dem Kontext genommen und eine allgemeingültige Regel für die zwischenmenschliche Kommunikation daraus abgeleitet.

Wenn die Wirkung von Kommunikation wirklich zu 7 Prozent auf dem sprachlichen Inhalt, zu 38 Prozent auf der Stimme und zu 55 Prozent auf der Körpersprache beruhte, würde das heißen: Allein aus Körpersprache und Stimme sollten wir 93 Prozent einer Botschaft erfassen.

Wenn das zuträfe, müsste ich mich fragen, warum wir unsere Kinder überhaupt noch in den Deutschunterricht schicken. Da muss sich doch auch bei einem Nicht-Experten der gesunde Menschenverstand einschalten und fragen: Kann das wirklich sein? War das tatsächlich so gemeint?

Faktentreue vor Thesentreue

Ich konnte mir das jedenfalls nicht vorstellen, als ich vor vielen Jahren erstmals auf eine der vielen Quellen stieß, die diese Fehlinterpretation der Ursprungsthese verbreiteten. Also tat ich das, was jedem freisteht: Ich schrieb Albert Mehrabian einfach mal an und fragte nach. Faktentreue vor Thesentreue. Und siehe da: Dem ging es mit all dem Unsinn, der in seinem Namen verbreitet wurde, auch nicht gerade prickelnd.

Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie sollten Ihrem Publikum die Formel von Mehrabian erläutern. Kämen Sie ohne Worte aus? Wieso müssen wir Fremdsprachen erlernen? Wie kommt es, dass wir leichter mit einem Blinden als mit einem Tauben kommunizieren? Wie ist es möglich, dass wir uns auch im Dunkeln sinnvoll unterhalten können? Und: Wie konnten Telefon und Radio so spektakulären Erfolg haben? Diese trivialen Beispiele widersprechen deutlich der Allgemeingültigkeit der Formel.

Dass komplexe Zusammenhänge einzig durch Stimmmodulation und Körpersprache vermittelt werden können sollen, ist absurd. Der Körper „spricht“, die Stimme artikuliert, aber hier entsteht keine eigenständige Bedeutung, kein Sinn.

Mehrabian selbst betont übrigens, er habe nie beabsichtigt, dass daraus eine allgemeine Erkenntnis für Kommunikation entsteht: „I am obviously uncomfortable about misquotes of my work. From the very beginning I have tried to give people the correct limitations of my findings.”[iii] Auf seiner Website unterstreicht er ferner, die Formel gelte nur, wenn man über Gefühle und Meinungen spricht.

Wahrhaftig sprechen oder schweigen

Es ist begrüßenswert, wenn Redner und andere Personen in der Öffentlichkeit sich auf die Suche nach Argumenten für ihre Thesen machen. Wir alle tun das, denn wir alle leben von unserer Relevanz. Und wir müssen auch nicht alle gleich zu Wissenschaftlern werden, um ein einfaches Argument zu untermauern. Und mal fehlinformiert zu sein oder Fakten mal falsch zu interpretieren – auch das kann jedem passieren.

Nicht okay ist es, wenn manche sich Fakten und Argumente bewusst so zurechtbiegen, dass sie zur eigenen These passen. Oder Fehler von jemand anderem übernehmen, anstatt den vermeintlichen Beweis einmal selbst zu hinterfragen. Damit tragen diese Menschen ihr Scherflein zur allgemeinen Unklarheit bei – bewusst oder unbewusst.

Der Trend zu Meinungsnarrativen ist die größte Gefahr für unsere Debattenkultur. Er ist der Klarheit abträglich. Er führt den Sinn und Zweck von Kommunikation ad absurdum. Wer sich die Fakten zurechtbiegt, verzerrt die Debatte und verletzt seine Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Und die gehen wir in dem Moment ein, wo wir uns an einer Debatte beteiligen. Ganz egal, ob es um Flüchtlinge, den ökologischen Fußabdruck oder die Wirkungsmacht von Körpersprache und Stimme geht.

Wahrhaftig sprechen oder schweigen: Das ist eine Regel, die im digitalen Zeitalter mehr Gültigkeit hat als je zuvor. Sie widerspricht nicht etwa dem Aufklärungsgedanken – sie hält ihn vielmehr am Leben. Sie widersetzt sich nur der Beliebigkeit des Meinungsbreis. Und diesen Widerstand haben wir dringend nötig. Denn nicht nur die Kabarettisten sind heute gern mal auf einem Auge blind.

[i] A. Regenbogen, U. Meyer: „Wahrhaftigkeit“, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 2013.

[ii] Albert Mehrabian and Susan R. Ferris, Inference of attitudes from nonverbal communication in two channels, Journal of Consulting Psychology 1967, S.252.

[iii] http://communicate.amplify.com/tag/mehrabian/


René Borbonus

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